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BGH: Behindertes Kind darf auf Erbe verzichten

 
 

Der Bundesgerichtshof bestätigt erneut die Wirksamkeit des sog. Behindertentestamentes und stärkt die Verfügungsmacht behinderter geschäftsfähiger Menschen im Erbrecht. 

Eltern behinderter Kinder können sich zu ihren Lebzeiten selbst um ihr Kind kümmern, es versorgen und ihm das geben, was es benötigt.

Aber was wird sein, wenn die Eltern einmal nicht mehr sind, wenn Geschwister nicht in der Lage sind diese Aufgabe zu übernehmen oder aber die Behinderung des Kindes es schon zu Lebzeiten erforderlich macht, dass das Kind in einem Heim lebt oder in einer beschützenden Werkstätte arbeitet und Leistungen eines Sozialhilfeträgers in Anspruch nimmt? Wie stelle ich sicher, dass meinem behinderten Kind etwas von meiner Erbschaft verbleibt und der Sozialhilfeträger nicht auf das gesamte, ihm von mir hinterlassene Vermögen zugreift?

Das Behindertentestament

Bisher hat der Bundesgerichtshof(BGH) das Behindertentestament in seiner Reinform als wirksam erachtet. Also der Anordnung von Vor- und Nacherbschaft mit einer Erbquote des behinderten Kindes, die höher liegt als sein jeweiliger Pflichtteilsanspruch. Und mit der Anordnung von Testamentsvollstreckung, begleitet von Anweisungen (an den Testamentsvollstrecker), dem behinderten Kind über die Leistungen des Sozialhilfeträgers hinaus Leistungen zukommen zu lassen. Ungeklärt ist dies lediglich bei Vorliegen eines größeren Vermögens im Nachlass.

Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19.1.2011

zum Behindertentestament und zum Pflichtteilsverzicht durch geschäftsfähige Behinderte.

Im jüngsten Urteil vom 19. Januar 2011 hatte sich der 4. Senat des Bundesgerichtshofs mit folgenden Sachverhalt auseinanderzusetzen:

Eheleute, die Ehefrau schwer krebskrank, errichteten im November 2006 ein notarielles gemeinschaftliches Testament. Darin setzten sie sich gegenseitig zu Alleinerben des Erstverstorbenen ein und enterbten ihre Kinder, also auch das behinderte Kind; was natürlich Pflichtteilsansprüche der Kinder nach dem Tode des erstversterbenden Elternteils begründete. Zu Schlusserben setzen sie ihre drei Kinder ein. Da eine Tochter (Jahrgang 1974) jedoch lernbehindert war und schon seit 1992 Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII erhielt, setzten die Eltern diese lediglich als nicht befreite Schluss-Vorerbin zu 17% ein - also nicht zur Vollerbin wie ihre Geschwister.  (Die Pflichtteilsquote der behinderten Tochter hätte  nach dem Tode des letztversterbenden Elternteils hätte  rechnerisch 16,66 % betragen, also etwas unter den 17 %, die die Eltern ihr als Schlussvorerbin testamentarisch zusprachen).

Darüber hinaus ordneten sie über den Erbteil ihrer behinderten Tochter Dauertestamentsvollstreckung an. Dass die Eheleute die behinderte Tochter abweichend von den beim Behindertentestament sonst üblichen Gestaltungsmodellen nach dem erstversterbenden Elternteil enterbt hatten, hatte einen Grund.

Im  Anschluss an die Testamentserrichtung, noch im selben Notarstermin, verzichtete das behinderte, jedoch geschäftsfähige Kind, wie auch seine Geschwister auf die Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen nach dem erstversterbenden Elternteil. Die Mutter starb noch am selben Abend.

Der Sozialhilfeträger nahm nun den Witwer aus übergeleitetem Recht der behinderten Tochter im Wege der Stufenklage auf Auskunft und Zahlung des Pflichtteils in Anspruch. Der Nachlass bestand im Wesentlichen aus einem Miteigentumsanteil an einem Hausgrundstück.

Behindertentestament

Der Bundesgerichtshof (BGH), der hierüber in letzter Instanz zu entscheiden hatte, bestätigte zunächst seine als gefestigt zu bezeichnende Rechtsprechung zum Behindertentestament.

Die bei Behindertentestamenten gewählte übliche Kombination aus Vor- und Nacherbschaft sowie die Anordnung einer mit konkreten Verwaltungsanweisungen versehenen Dauertestamentsvollstreckung, ist in den Augen des Bundesgerichtshofs nach wie vor nicht sittenwidrig, sondern "Ausdruck der sittlich anzuerkennenden Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod der Eltern hinaus.“

Dabei stellt der BGH klar, dass sich im zu entscheidenden Fall auch nichts dadurch ändert, dass das behinderte Kind geschäftsfähig ist.

Mit seinen Ausführungen bestätigte der Bundesgerichtshof erneut seine seit langem konstante Rechtsprechung zur Wirksamkeit sog. Behindertentestamente.

Pflichtteilsverzicht geschäftsfähiger behinderter Kinder

Im Hinblick auf den von der behinderten geschäftsfähigen Tochter erklärten Pflichtteilsverzicht betritt das Gericht juristisches Neuland.

Der Pflichtteilsverzicht eines behinderten geschäftsfähigen Kindes, so der Bundesgerichtshof, ist nicht sittenwidrig.

An dieser Einschätzung ändert auch nichts, dass die Tochter bis zum Zeitpunkt des Verzichtes erhebliche Sozialleistungen bereits bezogen hatte und die Erblasserin noch am Abend der Beurkundung des Pflichtteilsverzichtes verstarb.

Der BGH hebt in seiner Entscheidung hervor, dass gerade bei behinderten Menschen das Prinzip des Familienlastenausgleichs dem Nachranggrundsatz vorgehe. Nach diesem Prinzip trage die Allgemeinheit einen Teil der wirtschaftlichen Belastung der Versorgung und Betreuung von Kindern, weil eben Kinder die Fortexistenz der Gesellschaft sichern.

Eltern behinderter Kinder aber sollen nicht durch wirtschaftliche Belastungen in ihrer unentbehrlichen aktiven Mitwirkung an der Eingliederung ihre Kinder in die Gesellschaft gehemmt werden. Von ganz besonderer Bedeutung ist aber, dass der Bundesgerichtshof aufführt, dass ein Behinderter, ja sogar dessen gesetzlicher Vertreter (Eltern, Vormund bzw. Betreuer), dann aber  mit Genehmigung des Familien-/ Betreuungsgerichts, durchaus eine ihm angefallene Erbschaft wirksam und ohne Verstoß gegen § 138 BGB (Sittenwidrigkeit) ausschlagen kann. Diese zusätzliche Erklärung des BGH war durch die Fallgestaltung überhaupt nicht zwingend und notwendig. Entschieden werden musste ja nur, ob der Pflichtteilsverzicht wirksam erfolgt war.

Der BGH hat über den entschiedenen Fall hinaus einen – neuen – allgemeingültigen Rechtsgrundsatz aufgestellt: „Hiernach ist der Behinderte der einen Erbteil ausschlägt oder auf den Pflichtteil verzichtet durch seine so genannte negative Erbfreiheit", nämlich ein Erbe ohne Begründung anzunehmen oder auszuschlagen, geschützt. Diese Erbrechtsgarantie ist in Art. 14 des Grundgesetzes niedergelegt und gedeckt. Dies gelte nicht nur hinsichtlich der Erbenstellung sondern auch hinsichtlich der Vermächtnis und Pflichtteilsansprüche.

In diesem Zusammenhang stellt der Bundesgerichtshof erneut mit der herrschenden Meinung fest, dass der Sozialleistungsträger das Ausschlagungsrecht nicht auf sich überleiten kann, es also bei den behinderten Kindern selbst verbleibt. Die Befugnis, die Erbschaft anzunehmen, auszuschlagen oder die Annahme bzw. die Ausschlagung anzufechten geht für den Bundesgerichtshof mit der herrschenden Meinung nicht auf den Leistungsträger über.

Aus praktischer Sicht ist das Urteil zu begrüßen, obgleich mit Ausschlagung und Pflichtteilsverzicht hier Neuland betreten wird und vor allem mit dem Institut der „negativen Erbfreiheit" der Bundesgerichtshof ein neues Rechtsinstitut geschaffen hat. Es gibt insbesondere hierzu keine einschlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes.

Die Tragweite dieser Entscheidung ist noch ungewiss. Sie bietet mehrere allerdings riskante Gestaltungsmöglichkeiten auch bezüglich der üblichen „Behindertentestamente“.

Tipp:

Wie immer empfehle ich allen Eltern, die testiert haben, die Aktualität ihres Testaments regelmäßig durch kompetente Berater ihres Vertrauens, seien dies  Notare oder Fachanwälte für Erbrecht oder für Sozialrecht überprüfen zu lassen.

Bislang hat der Bundesgerichtshof die Wirksamkeit der Gestaltung des Behindertentestamentes in Form der Vor- und Nacherbschaft, begleitet durch die Anordnung von Testamentsvollstreckung, bestätigt. Ob dies weiterhin so bleiben wird, ist im Hinblick auf die Entwicklung des Sozialrechts und der Entwicklung öffentlicher Finanzen eine spannende Geschichte, die Eltern behinderter Kinder mit wachen Augen verfolgen sollten.

Ob man nun jedem geschäftsfähigen Behinderten raten kann, auf seinen Pflichtteil zu verzichten, ist schwierig zu beantworten und ganz sicher eine Frage des Einzelfalles. Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist es anzuraten.